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Lieber der Böse als der Dumme


 

Ständig den besten Deal herausholen. Ein Optimum an jedem Tag für sich selbst erwirtschaften. Wie die Ökonomie, die auf der Wachstumslogik basiert, uns erziehen will, sieht man jeden Tag. Läuft man in einen Supermarkt schreien einem aus allen Richtungen die Plakate entgegen. Das Wort profitieren wird groß geschrieben. Ein Grundmechanismus der Wirtschaft besteht darin, die Konsumenten gegenseitig in ein Konkurrenzverhältnis zu stellen, wo der schnellere und clevere belohnt wird. Die Bahn fährt heute zum grossen Teil mit dem Geld der Loser, der Trottel, die nicht smart genug waren, um auf das neue Vergünstigungs-Angebot zu reagieren. Leute, die sich nicht über profitable Modelle informieren, sind die Dummen geworden, die von allen anderen belächelt werden.

Werbung spricht in ihrer Formulierung immer nur den Einzelnen an. Auf keiner Tafel steht Profitiert jetzt alle! Da steht Profitiere jetzt! Du. Du allein. Vor den anderen. In Zeiten des Massenkonsums, wo uns der Egoismus tagtäglich durch solche Slogans eingetrichtert wird, sind die Leute enorm sensibel geworden. Alle haben Angst, dass sie überall verarscht werden. Löst man in einem Telekom-Shop ein neues Abo, so tut man dies immer mit einem flauen Gefühl im Magen, dass man sich das Kleingedruckte doch gar nicht wirklich angeschaut hat. Ist es der beste Deal für mich oder bin ich gerade Abzockern auf den Leim gegangen?

Der Umgang mit Spendensammlern auf der Straße zeigt die Denklogik im Umkehrschluss. Die meisten Leute lehnen eine Spende mit der Begründung ab, dass man hier doch eh nur verarscht wird. Das Geld komme doch eh nicht an. Ich gehe lieber selber nach Ghana oder Mali, um dort den Leuten mein Geld zu geben. Dann weiß ich, was damit geschieht. Derlei absurde Schutzbehauptungen gehen den Leuten vollkommen schamlos über die Lippen.

Die Angst davor, dass man in irgendeiner Weise als der Dumme aus der Geschichte herausgeht, der übers Ohr gehauen wurde, ist viel stärker als das Bedürfnis etwas Gutes zu tun. Zunehmend wird im allgemeinen Gutmenschentum mit Naivität gleichgesetzt. Viele Leute gehen schon soweit, der Empathie die Rationalität abzusprechen. Auf politischer Ebene hat sich diese Überzeugung schon längst durchgesetzt, vor allem am rechten Rand. Wortschöpfungen wie linksgrün-versiffte Gutmenschen entstanden im Zuge einer Flüchtlingswelle, wo es um Solidarität mit anderen Menschen ging. Doch nicht nur bei den Rechten sieht man sich mittlerweile lieber als den cleveren Egoisten als den gutmenschlichen Loser.

 

Was dem ganzen zugrunde liegt, ist unsere Misstrauenskultur. Sie lässt uns in einer Ellenbogengesellschaft leben, wo sich jede und jeder nur überlegt, was sie oder er persönlich davon hat. Wenn sich alle von uns dieses Denken immer mehr antrainieren, ist irgendwann kein Staat mehr zu machen. Vielleicht wäre es also gar nicht so schlecht wenn wir lernen würden, wieder ein bisschen mehr das Wagnis einzugehen, der Dumme zu sein. Wäre vielleicht auch was Schönes und Entspanntes.

September 2021

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